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Redezeit: Der Zeit voraus - Grenzgänge im Ural Gespräch mit Gudrun  und Karl Wolff.Moderation: Jürgen Wiebicke

Gudrun  und Karl Wolff, lernten sich im Chor am Slawischen Seminar in Tübingen während ihres Studiums kennen; Musik war und ist dem Paar nach wie vor sehr wichtig. 1968 unternahmen die beiden ihre erste Fahrt in die damalige Sowjetunion; zu fünft fuhren sie in einem Bulli ausgerechnet am 21. August 1968 los, als sowjetische Panzer in Prag einfielen und dem so genannten "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" ein Ende bereiteten. Von da an bereisten die Wolffs regelmäßig die Sowjetunion, interessierten sich besonders für die Provinz und weniger - wie die anderen - für Moskau und Petersburg. 20 Jahre nach ihrer ersten Tour waren sie bei der Gründung der Deutsch-Sowjetischen Gesellschaft dabei: Viele ihrer Freunde aus Dissidenten- und Künstlerkreisen kamen seither nach Münster. Gern erinnern die Wolffs daran, dass sie nachdem Gorbatschow an die Macht kam, eine Satellitenschüssel kauften. Sie wollten täglich die Perestrojka-Politik mit verfolgen können.

Hier geht es zum Podcast des Tagesgespräches.

 

  über Jörg Kremers & Gerd Sonntag: Also bin ich,

Heinsberg. Die Geschichte einer unglücklichen Verbindung von Wahrheit und Wahnsinn haben Jörg Kremers und Gerd Sonntag gemeinsam zu Papier gebracht. Auf 490 Romanseiten erzählt das Autoren-Duo die Geschichte des jungen Psychologen Halverstett, eines sensiblen, im Schatten seines übermächtigen Vaters stehenden Einzelgängers, der sich an seinen ersten Patienten, den gleichaltrigen Ignatius, erinnert.

Entstanden ist ein Genre übergreifender Roman, dessen Titel «Also bin ich» auf den berühmten Satz des französischen Philosophen RenŽ Descartes verweist «Ich denke, also bin ich».

Die Autoren Kremers und Sonntag haben sich in der Literaturszene bereits einen Namen gemacht. Gerd Sonntag, der 1962 in Geilenkirchen geboren wurde und dort lebt, studierte Bibliothekswesen in Köln und ist hauptberuflich seit 1990 Leiter der Stadtbücherei in Heinsberg. In den 90er-Jahren gab er die Literaturzeitschrift Janus heraus.

1994 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband, es folgten die Lyrikbände «cerise» und «Aus der Sammlung der Gespenster» sowie «Schattenseiten» im Jahr 2006. 2011 erscheint in der lyrischen Reihe «Silver Horse Edition» von Peter Ettl das neueste Werk Gerd Sonntags «Die Herkunft des lyrischen Ichs».

Jörg Kremers, der 1969 ebenfalls in Geilenkirchen geboren wurde, lebt heute in Heinsberg-Karken. Er studierte Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft an der RWTH Aachen und ist angestellt bei der VHS Heinsberg, bei der er als Dozent für Sprachen tätig ist. Nach Kurzprosa-Veröffentlichungen in diversen Literaturzeitschriften erschien 1998 sein philosophischer Roman «Humana Comedia». 2002 folgte dann der historische Roman «Mea Culpa», der die Anfänge der Hexenverfolgung in Deutschland am Beispiel der Reichsstadt Aachen im 16. Jahrhundert nachzeichnet.

Die Idee zu «Also bin ich» hatte Jörg Kremers bereits 2005. Erste Passagen des Romans schickte er damals seinem Freund und Schriftstellerkollegen Gerd Sonntag. «Mir war sehr an einer ehrlichen Meinung in diesem frühen Stadium des Romans gelegen.» Aus der Meinung wurden Vorschläge, wie sich das Werk entwickeln könnte, schließlich wurden Kapitel gemeinsam geschrieben. Gerd Sonntag: «Wir hatten bisher nur positive Rückmeldungen von Testlesern. Manche haben den Text sogar gleich zweimal gelesen und immer wieder neue Aspekte gefunden.»

Eine der beiden Hauptfiguren des Romans Ignatius leidet unter einer «Schizoiden Psychose»; er behauptet, seinen Bruder getötet zu haben, den es nachweislich nie gegeben hat. Die zweite Hauptfigur, der unerfahrene Psychologe Halverstett ist sicher, zum Kern dieser Wahnidee vordringen zu können. Doch je tiefer er gräbt, um so mehr gerät er in die Komödie einer irrwitzigen Identitätssuche. Sie gerät zu einem mörderischen Machtspiel.

Der Roman «Also bin ich» ist im Ludwigsburger Pop Verlag erschienen und wurde mit dem Prosa-Debütpreis 2011 dieses Verlags ausgezeichnet worden.

Logo Literaturkritik.de Nr.11 November 2009

Metamorphosen – Visionen – Bewegungen

Emilian Galaicu-Păun fordert den Leser in seinem Gedicht-Band „Yin Time“ heraus

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon der Titel „Yin Time“ weist darauf hin: Die Lyrik dieses Bändchens ist Kunst, die sich aus vielen Quellen speist, wobei zeitlich als auch räumlich kaum Grenzen gesetzt sind. Yin als Begriff aus der chinesischen Philosophie für das Schattige, Dunkle stehend, aber auch Verkörperung des Weiblichen, entstand wie sein Gegenpol Yang aus dem Dao, dem ewigen Schöpfungsprinzip, das durch Veränderung, Bewegung und Durchdringung die Welt hervorbringt. 
Genau dem scheint der Autor mit seinen Versen folgen zu wollen. Gegensätze, die Visionäres und Existentielles, Körperliches und Geistiges, Reales und Sakrales betreffen, sich in Prägnanz und überbordender Fülle, im freien Vers oder selten im Reim zeigen, Gegensätze sowohl auf der thematischen als auch auf der strukturellen Ebene, die oft gleichzeitig bestehen, sind kennzeichnend, bringen einen ganz eigenen Kosmos hervor und bieten vielfältige Möglichkeiten der Deutung. Ob Schöpfungsgeschichte oder Kreuzigung, Erotik oder Krieg, ein Fest im 19. Jahrhundert oder moldauische Politiker von Heute, das Durchdeklinieren von Grammatik oder Spiel mit dem Schriftbild – alles kann Fundgrube werden für das opulente Spiel mit Gedanken und Sprache.
Emilian Galaicu-Păun, 1964 geboren in der damals zur UdSSR gehörenden Moldauischen Sowjetrepublik, absolvierte sein Philologiestudium in der Hauptstadt Chişinău, sein Doktoratsstudium in Moskau. Er gehört zu den rumänischsprachigen Schriftstellern der heute unabhängigen Republik Moldau und zu einer Generation, die nach Jahrzehnten staatlich-ideologischer Restriktionen und erzwungener künstlerischer Abschottung, die auch den Austausch mit Rumänien betraf, frei den Umgang mit der Weltkultur pflegt und ein neues ästhetisches Bewusstsein herausbildet.
Galaicu-Păun strebt danach, seinen weiten Bildungshorizont auszuloten und Erfahrungen im Kontext von Traditionen zu verarbeiten. Der Dichter legt es darauf an, „die welt mit anderen augen zu betrachten, zu sehen was sie zuvor nie gesehen hat“, wie er einer „Sie“ in einem seiner Verse zudichtet. Die zahllosen intertextuellen Bezüge sind nur die logische Folge eines lebenslangen Aneignungsprozesses, der den weltweiten Bogen von Religion über Volksliteratur und Philosophie bis hin zu Literatur, Musik, bildender Kunst oder gar der heutigen Modewelt spannt.
Mit diesen kulturellen Zitaten geht er als postmoderner Dichter spielerisch und gleichzeitig mit einem hohen Verschlüsselungsgrad um, sieht er doch in der Postmoderne „eine Art höhere Mathematik des Geistes“. Seine „Ingenieurarbeit“ am Text umfasst den ironischen Umgang mit Techniken, parodistische Paraphrasen und Manierismus. Als Leser entdeckt man immer wieder neue Verweise und ist zum Wiederlesen angeregt.
Dieses sechste Werk des Autors erschien 1999 in rumänischer Sprache und ist wohl der erste vollständige Band eines moldauischen Lyrikers, der im Westen veröffentlicht wurde. Kunstvoll nachgedichtet wurden die Texte von Hellmut Seiler, der als aus Rumänien stammender deutschsprachiger Dichter mit beiden Sprachen bestens vertraut ist. Das Nachwort des rumänischen Literaturprofessors Cistelecan sowie Auszüge aus rumänischsprachigen Kritiken bieten Angebote zur Interpretation. Biografische Angaben zu Autor, Übersetzern und dem Autor des Nachwortes vermitteln dem interessierten Leser weiterführende Details.

Titelbild

Emilian Galaicu-Paun: Yin Time. Gedichte.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Hellmut Seiler.
Pop Verlag, Ludwigsburg 2007.
124 Seiten, 16,30 EUR.
ISBN-13: 9783937139418

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21.12.2008 "Tu es, fang an, und die Welt wird sich ändern!“ | Gedanken von Petra Kelly und Seiner Heiligkeit, dem XIV. Dalai Lama

Hrsg. von Uli Rothfuss

Es ist spannend, sich mit zwei Persönlichkeiten wie Petra K. Kelly und dem 14. Dalai Lama zu beschäftigen. Spannend, zu sehen, wie sich die Lebensläufe dieser beiden Friedenskämpfer beinahe zwangsläufig begegnen mussten, so viele geistige und innermenschliche Berührungspunkte gibt es in ihren Leben. 

Kulturtipps von Uli Rothfuss in SWO_Buchtipp 210  Petra Kelly ist vielen heute noch Vorbild mit ihrem unbedingten Einsatz für eine Sache; darin, wie sie sich die Sache des Friedens, des sozialen Ausgleichs, aber eben auch des Kampfes für die Benachteiligten – und zu diesen gehören auch die kranken Kinder – ganz zueigen gemacht hat, so sehr, dass sie alle anderen, eigenen Interessen hintanstellte. Der 14. Dalai Lama ist heute weltweit ein Vorbild für viele geworden – seine Sanftheit und zugleich Bestimmtheit, mit der er sein Ziel, Erleichterung für Tibet zu erreichen, verfolgt. Dafür, dass er selbst auf jeden Ausdruck von Gewalt verzichtet und dies auch von seinen Anhängern fordert. Darin stellt er sich bewusst nicht auf die Seite der Mächtigen der Welt – und wird doch dadurch zum Vorbild für viele, denen die Augen geöffnet werden, wie Auseinandersetzung und letztlich Politik auch vor sich gehen könnten. (Aus dem Vorwort von Uli Rothfuss). Das Buch erschien zum 35jährigen Bestehen der Grace P. Kelly – Vereinigung zur Unterstützung von krebskranken Kindern und Ihren Familien und wurde von Uli Rothfuss, Mitglied im Kuratorium der Vereinigung, herausgegeben. Der Erlös kommt der Vereinigung zugute. Uli Rothfuss (Hrsg.): Tu es, fang an, und die Welt wird sich ändern! Gedanken von Petra Kelly und seiner Heiligkeit, dem XIV. Dalai Lama. Brosch., 62 S., Pop-Verlag, Ludwigsburg 2008.

MatthiasHagedorn 09.03.2008 

Über das Ausschreiten von Sprachräumen

Wer schreibt, der kennt die Situation im Angesicht des Nichts. Der Tisch wird zu einem leeren Strand. Mit dem ersten Wort auf dem leeren Papier hat man das Gefühl, man springe ins kalte Meer. Es ist ein langwieriger Häutungsprozesses, den das literarische Schreiben bedeutet. Das ist immer noch ein Wunder für Francisca Ricinski. Sie kann sich mit nichts an einen Tisch setzen, und von irgendwoher kommt dieses Etwas, das vielleicht einmal zu einem Buch wird. Schreiben ist die beste Möglichkeit, um Personen, Handlungen und Konflikte verstehen zu lernen, Motive können nur aufrühren, wenn es Motive von Fall, Flucht und Verfolgung, von Gleichgültigkeit, Auflehnung und verfehlter Lebensgründung sind. Die Aufgabe der Poesie ist die Entdeckung des Typischen im Exzeptionellen. Die Wahrheit der Paradoxie steckt auch in den Texten der am 18. November 1943 in Tupilati / Rumänien geborenen Autorin Francisca Ricinski; sie müssen gegen den Strich gelesen werden. Die Grenzen zwischen Poesie und Prosa sind bei Francisca Ricinski fließend: Im Traum vermischen sich Lied und Notiz; die Lyrikerin mutiert zur Tagebuchschreiberin; die Reflexion fällt der poésie pure ins Wort. Francisca Ricinski knüpft an eine literarische Tradition der europäischen Moderne an, die E. M. Ciorans »Lehre vom Zerfall« ebenso verpflichtet ist wie dem Dichter Mihai Eminescu.

Langfristig gesehen geht es Autoren oft besser, wenn sie nie im Trend lagen – dann können sie auch nicht aus der Mode kommen. Dazu noch sind solche Künstler möglicherweise seelisch gesünder. Francisca Ricinski schreibt Lyrik, Theaterstücke, Erzählprosa, Essays, sie ist eine hervorragende Übersetzerin und hat sich um die Propagierung zu wenig beachteter Schriftsteller verdient gemacht. Sie sucht nicht die Öffentlichkeit des Literaturbetriebs, macht sich rar, wo es lärmend zugeht. Eher trifft man sie in den bisweilen elitären Kreisen des "Dichtungsrings", des "Philotast", des "Krautgartens", der "Eremitage" und "der Matrix". Dies mag mit ihren Wurzeln zu tun haben. Ihr Vater, ein Pole mit französischen Ahnen, ihre Mutter, eine Rumänin, aus dem Nordosten des Landes, unweit von Bukowina des Paul Celan und Rose Ausländer. Ihre Prosa handelt vom Auswandern, von der Liebe, der Macht zufälliger Begegnungen und der Brüchigkeit von Identität. An der Schwarzmeerküste schrieb Ovid seine Tristium libri, traurige Gesänge der Sehnsucht nach Rom, hier lebte Puschkin in einigermaßen komfortabler Verbannung, und 1919 verließ von der Krim aus der junge Nabokow sein Heimatland. Identität entsteht bei Francisca Ricinski nicht aus der Gewissheit eines lückenlosen Stammbaums, sondern aus einer Schlüsselerfahrung des 20. Jahrhunderts: dem Exil. Aus der alten Strafe des Heimatverlusts und der Entwurzelung, aus der nach dem 2. Weltkrieg eine Verschiebung von Menschenmassen kreuz und quer durch Europa wurde. 1980 verließ sie das Land und übersiedelte aus familiären Gründen nach Bonn. Die Erfahrung von Fremdheit, der Zusammenprall von Menschen, Kulturen, Sprachen und Zeiten bestimmt den Grundton ihrer Schriften. Hier ist alles Erfundene wahr ist und alles Wahre erfunden. Als Hybrid eignete sie sich zwischen dem Schwarzen Meer und dem Rhein die deutsche Sprache an. Ähnlich wie die Kolleginnen Herta Müller und Ioona Rauschan schreitet sie diese Sprachräume in suchenden Bewegungen aus.

Man braucht ein Ohr zur Sprache. Francisca Ricinski hat nie versucht, den sprachlichen Modismen zu folgen. Der sicherste Weg ins Unmoderne ist, das Moderne zu pflegen, weil man das morgen nicht mehr hören kann. Anhaltspunkte aus der menschlichen Wirklichkeit. Ihre Figuren sind in das Mahlwerk einer übergroßen zerstörerischen Macht geraten. Sie haben überlebt, doch nun sind ihnen Bilder eingebrannt. In zahlreichen, oft kaum merklichen Rückblenden eines zurückhaltenden Erzählers macht sich der Klammergriff bemerkbar, in dem diese Bilder die Gegenwart halten. Unbekümmert, mit feinem stilistischem Gespür mischt sie Genres, verbindet Analysen mit Impressionen, gleitet vom Heute ins Gestern und wieder zurück. Francisca Ricinski schreibt präzise und sensibel, sie versteht es, die große Geschichte mit der kleinen zu verschränken, das Persönliche ins Allgemeine laufen oder besser: stürzen zu lassen. Wenige Skizzen reichen ihr, ihren Protagonisten ein persönliches Antlitz zu geben. Nichts scheut sie so sehr wie das Pathos des Individuellen, die Überfrachtung der Poesie mit Unmengen von Privatem, auf das der Leser auch ja verstehe, welch einzigartiger Mensch da verloren geht. Aufdringliche Privatmythologie ist ihre Sache nicht, die Texte bleiben schlank. Es gibt bei ihr eine Einfachheit der Sprache, eine Natürlichkeit der Dialoge, die den Abstand zur Literatur geringer erscheinen lässt. Dabei müssen die Menschen nicht unbedingt so sprechen wie „im richtigen Leben“. Aber man spürt, daß die Worte, Sätze, die Francisca Ricinski für sie schreibt, ihnen entsprechen.

Bestechend in ihrer Andersartigkeit und von hohem ästhetischem Reiz sind die kurzen Geschichten und poetischen Splitter in dem Band »Auf silikonweichen Pfoten«. Erzählungsbände fordern vom Leser mehr Konzentration als Romane: immer neue Namen, immer neue Konflikte. Auf den ersten Blick wirken diese Texte wie kleine Knäuel. Die Gedanken und Sätze laufen hier in verschiedene Richtungen, scheinen weder Anfang noch Ende zu haben. Das alles ist mehr als erträglich, weil Francisca Ricinski dafür eine Sprache hat, die sich auf nichts ausschließlich einlässt, sondern immer mit Augenzwinkern erzählt. Bisweilen machen ihre Sätze Faxen, springen von hier nach dort, wieder zurück und auch mal absichtsvoll daneben. Über feine Wortschleifen und Bedeutungsverschiebungen verschlingt diese Rede sich immerzu neu – und läuft doch voran. Ein wundersames Buch. Und sehr anders. Handlung gibt es fast keine, dafür handelt es von umso gewichtigeren Dingen, vom Leben zum Beispiel und vom Tod und den Toten und davon, was das alles miteinander zu tun hat. Über alldem und um all das herum bilden Humor und Traurigkeit eine Dichotomie, die das Ganze auch da, wo es wirklich ernst ist – und wahrscheinlich ist es das fast das ganze Buch über –, nicht ins Bierernste kippen lässt. Ihre Prosa ist raffiniert genug, seine Form nicht einfach zu behaupten, sondern auch zu zeigen, was sie überwinden will. Ihre Sätze wirken wie kleine Maiskörner, um die herum immer mehr Wörter, Wortgruppen und Nebensätze gepackt werden, bis sie zu großartigem, buttrig–salzigem Popcorn explodieren. Der Autorin verschafft dies die Möglichkeit, Vorlieben und Obsessionen auf verschiedene Weisen zu umkreisen. Unter lauter Metaphern verschwindet zuweilen der Kern. Und zum Kern ihres ureigenen Kosmos findet Francisca Ricinski zurück durch Besinnung – auf sich selbst. Der Band ist zudem klug zusammengestellt, und dies fügt die Komposition den Geschichten einen doppelten Boden hinzu. Locker rollt Francisca Ricinski ihre Gedanken auf, von Absatz zu Absatz, von Text zu Text. Und immer kunstvoller variiert sie dabei die Sätze. Für Momente bringt die Sprechende ihre Sätze ins Gleichgewicht, um sie flugs wieder zu verschieben und neu auszurichten. Ihre Themen – die Liebe, das Erotische, das Versöhnliche – scheinen nur noch ex negativo als etwas schmerzlich Abwesendes beschreibbar. Wer ihren besonderen Ton schätzt, jene Mischung aus Märchenanklängen, sprachschöpferischem Furor, gepflegter Schnoddrigkeit und etwas manierierter Erdenschwere, der wird mit den silikonweichen Pfoten erstklassig bedient. Durchgehend erweist sie sich als Meisterin des zwar nicht düsteren, aber doch gedrückten Tons. Eines Stils, der traurig, aber niemals sentimental ist. In der vermeintlichen Nähe zeigt sich zugleich die Ferne. Gegen Ende wird der Ton dieser Kurzgeschichten ambivalent: Härte, gedämpft durch Sentimentalität; Grobheiten mit einer Beimischung von Herzensgüte. Dem Spiegelkabinett können wir bei Francisca Ricinski nicht entrinnen. Das es ist der Kern ihres Denkens: Versöhnung von sich ausschließenden Kräften, sie zeigt, daß die Seele mit der Zauberkraft der Kunst und der Phantasie überleben kann.

Sie krampft sich nichts ab, eher schüttelt sie ein paar Zeilen aus dem Ärmel. Francisca Ricinski richtet den performativen Blick auf die Endlichkeit des Lebens, sie bietet dessen Eitelkeiten als ein oft Karnevaleckes, immer jedoch als theatralisches Proszenium dar. Was sich von selbst versteht, muß nicht eigens verstanden werden. Das ist praktisch. Es ist die Praxis des alltäglichen Zusammenlebens. Andererseits schwebt das Selbstverständliche darum stets in der Gefahr, unverstanden zu bleiben. In solcher Gefahr ist diese Prosa in ihrem Element. Sie sucht das Unverstandene und Unselbstverständliche im Selbstverständlichen auf, um das Selbstverständliche besser zu verstehen. Es ist nie auszuschließen, daß sie dabei Befremden erzeugt.

Francisca Ricinski stellt die alten Grundfragen, daran, was Poesie will: Als Ethik des unbedingten Sollens ignoriert sie die Eingebundenheit der einzelnen Subjekte in die sozialen Verhältnisse und konfrontiert sie mit idealen Forderungen, deren grundsätzliche Erfüllbarkeit sie einfach voraussetzt. Als Ethik des guten Lebens ignoriert sie die Frage des einzelnen, was für einer er sein will, indem sie ihn mit dem allgemeinen Begriff einer vernünftigen Lebensform abspeist. Francisca Ricinskis Handschrift ist eine Kennung, ein Ausweis, ein Biorhythmus. Deshalb frei nach Walter Benjamin: Man möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen – bevor es andere tun. Ein Stoßseufzer post festum, sicherlich. Dennoch möge er gehört werden.

Matthias Hagedorn

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